VDV-Stellungnahme zur Freistellung der Eisenbahnstrecke
Bocholt – Borken – Coes-feld (Strecke 2265) von Betriebszwecken
Die ca. 40 km lange Eisenbahnstrecke 2265 Bocholt – Borken – Coesfeld wurde von 1902 bis 1904 erbaut und im Jahre 1974 für den Personenverkehr, 1981 bis 1991 für den Gesamtverkehr stillgelegt. In den Jahren vor der Stilllegung im Personenverkehr wurde die Strecke u. a. von Eilzügen der Relation Münster – Coesfeld – Borken – Bocholt befahren. Zwischen Coesfeld und Münster ist die Strecke 2265 nach wie vor vorhanden und in den letzten Jahrzehnten zur Verbesserung des SPNV ausgebaut worden.
Die Strecke Bocholt – Borken – Coesfeld bietet ein erhebliches Potenzial für den Personenverkehr; darüber hin-aus ist auch ein Potenzial für den Güterverkehr gegeben. Da für das gegebene Verkehrsbedürfnis keine sinnvollen Alternativen bestehen, liegt ein Verkehrsbedürfnis vor, das eine Freistellung von Bahnbetriebszwecken nach § 23 AEG ausschließt, wie im Folgenden auszuführen sein wird.
Die Strecke Bocholt – Borken – Coesfeld folgt einer raumbedeutsamen Achse zwischen Städten und Gemeinden mit zentralörtlicher Funktion. Sie verbindet das Mittelzentrum (mit teilweise oberzentraler Versorgungsfunktion) Bocholt (71.061 Einwohner) sowie das Mittelzentrum Borken (42.650 Einwohner) mit dem Mittelzentrum Coes-feld (36.182 Einwohner) sowie mit dem Oberzentrum Münster (316.403 Einwohner) und damit Bocholt als drittgrößte Stadt des Münsterlandes mit der zuständigen Kreisstadt Borken sowie Münster als größter Stadt des Raumes mit erheblichen Funktionen für den Gesamtraum, insbesondere in Verwaltung, Bildung, Rechtsprechung und Wirtschaft. Zudem verbindet die Strecke die Grundzentren Rhede (19.319 Einwohner), Velen (13.112 Einwohner) und Gescher (17.246 Einwohner) mit den vorgenannten Mittelzentren und dem Oberzentrum Münster. Im Hinblick auf ihr Potenzial zur Wahrnehmung einer raumbedeutsamen Achsenfunktion nimmt die Strecke Bocholt – Borken – Coesfeld unter den stillgelegten Eisenbahnstrecken in Deutschland eine Spitzenposition ein. Insgesamt leben ca. 200.000 Menschen im Einzugsbereich der Strecke. Dies und der Wert von 4.989 Personen pro Streckenkilometer sind ebenfalls vergleichsweise sehr hohe Werte.
Darüber hinaus könnte durch Erweiterung einer Reaktivierung auf den Abschnitt Bocholt – Isselburg-Anholt – Empel-Rees mit vergleichsweise geringem Zusatzaufwand eine durchgehende internationale Verbindung Arn-hem (Niederlande) – Münster geschaffen werden, die angesichts der großen Entfernung und nur auf Umwegen zu erreichender alternativer Ost-West-Eisenbahnverbindungen aus den Niederlanden wie Hengelo – Bad Bentheim – Rheine – Osnabrück und Venlo – Viersen – Ruhrgebiet ein erhebliches Potenzial auch für den grenzüberschreitenden Verkehr bieten würde, zumal Bocholt und Borken ihre früher bestehenden Schienenverbindungen in die Niederlande eingebüßt haben.
Eine alternative oder zusätzliche Weiterführung von Zügen aus Richtung Westen von Coesfeld aus über die vorhandenen Strecke 2100 nach Dülmen und die Hauptabfuhrstrecke 2200 weiter nach Münster würde eine weitere Verkürzung der Fahrzeiten ermöglichen, mit der zusätzliches Potenzial zu generieren wäre. Der südliche Kreis Borken, zu dem auch die Stadt Bocholt gehört, ist derzeit im Schienenpersonenverkehr unter-versorgt. Die Städte Rhede, Velen und Gescher verfügen über keine Anbindung an den SPNV. Es besteht eine wenig attraktive Busanbindung, die wegen vieler Halte langsam ist und durch hohes Verkehrsaufkommen auf den Straßenverbindungen behindert wird. Bocholt und Borken sind lediglich in Richtung Süden per SPNV ange-bunden. Zwar ist diese Anbindung an den Rhein/Ruhr- Ballungsraum ebenfalls wichtig, es fehlt jedoch die An-bindung an Münster, die angesichts der zurückgehenden wirtschaftlichen Bedeutung des Ruhrgebietes und der hohen wirtschaftlichen Dynamik des Raumes Münster an Bedeutung gewinnt. Die Wiederherstellung des Schienenpersonenverkehrs in der Relation Bocholt – Borken – Coesfeld – Münster würde diesen Missstand beseitigen.
Das örtliche Straßennetz ist trotz teilweisen Neubaus zum Teil – auch in Ost-West-Richtung – überlastet. Die Reaktivierung der Strecke Bocholt – Borken – Coesfeld würde eine nicht straßengebundene Alternative bieten. Eine Entlastungswirkung wäre durch eine Nutzung der Trasse als Radweg angesichts der in den relevanten Verkehrsrelationen zurückzulegenden Entfernungen bei realistischer Sichtweise unrealistisch.
Ein erheblicher Teil der Verkehrsnachfrage ließe sich bei einer Reaktivierung durch die Verlängerung der Um-läufe bestehender SPNV-Verbindungen aufwandsarm befriedigen. Eine solche Erweiterung wäre im Hinblick auf folgende Linien möglich:
– RB 63 Münster – Coesfeld, die über Borken nach Coesfeld verlängert werden könnte,
– RE 19 Düsseldorf Hbf – Bocholt, der nach Borken verlängert werden könnte,
– RE 14 Essen-Steele – Borken, der nach Bocholt verlängert werden könnte.
Für den Güterverkehr bedeutsam sind bestehende Industriegebiete in Rhede, Borken, Ramsdorf und Gescher, die durch eine Reaktivierung der o.a. Strecke wieder an das Schienennetz anzubinden wären. Aufgrund der zunehmenden Nachfrage bei Industrie und Logistik für den Schienengüterverkehr, die durch die von 43 Wirtschafts-verbänden mitgetragenen Gleisanschlusscharta des VDV unterstrichen wird und der wesentlich verbesserten Konditionen der Gleisanschlussförderung ist ein Potenzial für die Nutzung der Strecke 2265 durch den Güterverkehr gegeben. Die angekündigten Maßnahmen der Verkehrswende seitens der Bundesregierung und des zu-nehmende Fahrermangels im Fuhrgewerbe, der sich aus demographischen Gründen verschärfen wird, unterstreichen diese Einschätzung.
Aufgrund der zunehmenden Auslastung des bestehenden Eisenbahnnetzes gewinnt die Stabilität des Betriebs im Netz stark an Bedeutung. Eine wichtige Maßnahme zur Schaffung von mehr Resilienz im Eisenbahnnetz ist die stärkere Vernetzung bestehender Eisenbahnverbindungen und die Schaffung von Alternativanbindungen. Die Verbindung der bisher nicht miteinander verbundenen Stichstrecken nach Bocholt und Borken würde die be-triebliche Flexibilität erheblich erhöhen, insbesondere die Erreichbarkeit der beiden Städte auf der Schiene bei baubedingter oder anderweitiger Nichtverfügbarkeit der bislang vorhandenen Anbindung. Die Reaktivierung der Strecke hätte demnach auch eine Funktion im Hinblick auf die angestrebte Erhöhung der Resilienz.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch die potenzielle Funktion der Strecke für den Tourismus. Touristische Ziele sind z. B. die münsterländische Parklandschaft mit zahlreichen attraktiven Radwegen (auch ohne Nutzung von Eisenbahntrassen für den Radverkehr) oder die über diese Strecke erreichbaren Burgen und Schlösser in Rhede, Ramsdorf und Velen. Die Achse vom touristisch bedeutsamen Zentrum Münster zu den Zielen im westlichen Münsterland dürfte nicht nur an Wochenenden zu beträchtlich gesteigerter Nachfrage führen.
Dies gilt auch durch den im Münsterland starken Fahrradtourismus, der im SPNV weitaus praktikablere Optionen zum Transport der Räder an die Ausgangspunkte der Radtouren verfügt, als im straßengebundenen ÖPNV oder gar bei der Überbrückung der z. T. langen Anmarschwege durch Nutzung der Radwegeinfrastruktur. Angesichts der angeführten Gesichtspunkte verwundert es nicht, wenn in einer Studie des Aufgabenträgers von 2019/20 ein sehr hohes Verkehrsaufkommen prognostiziert wurde. Der dort ausgewiesene Nutzen-Kosten-Faktor von geringfügig unter 1 beruht z. T. auf falschen Annahmen im Hinblick auf eine bereits erfolgte Freistellung von Betriebszwecken und überhöhten Annahmen bei den Baukosten. Zudem konnte die Studie seinerzeit noch nicht die in Kürze zu erwartende Anpassung der Kriterien für die standardisierte Bewertung von Verkehrswege-investitionen im schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr berücksichtigen. Diese werden auch im Hinblick auf die Strecke 2265 eine absehbar positive Wirkung für den Nutzen-Kosten-Faktor haben. Die Strecke dürfte selbst dann den kritischen Faktor 1 übertreffen, wenn die unrealistischen Kostenannahmen nicht korrigiert werden sollten.
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen hat in Würdigung aller Aspekte die Reaktivierung der Strecke Bocholt – Borken – Coesfeld in seinem “Positionspapier „Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken“ empfohlen. In dem Entwurf der für Mitte 2022 vorgesehenen Neuauflage des Positionspapiers wird diese Empfehlung bestätigt werden.
Es sollten aus Sicht des VDV alle Maßnahmen unterlassen werden, die eine Reaktivierung der Strecke negativ beeinflussen würden. Dies gilt insbesondere für eine Freistellung von Betriebszwecken, die die Kosten und den Zeitaufwand der Wiederinbetriebnahme massiv erhöhen würde. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag von 2021 ausdrücklich dazu bekannt, das Streckennetz der Eisenbahnen zu erweitern, Strecken zu reaktivieren und Stilllegungen zu vermeiden. Bereits in der letzten Legislaturperiode wurden durch die Novellierung des GVFG die Rahmenbedingungen für Reaktivierungen von Eisenbahnstrecken beträchtlich verbessert. Das Eisen-bahn-Bundesamt unterstützt dies durch die Erarbeitung eines Leitfadens für Reaktivierungen. Angesichts dieser politischen und administrativen Zielsetzungen und der nahezu flächendeckend in Deutschland zunehmenden Bereitschaft, Schienenstrecken zu reaktivieren wäre eine Freistellung von Betriebszwecken zum jetzigen Zeit-punkt nicht nur rechtlich nicht zu begründen, sondern würde zudem als Akt gegen die durch die Bundesregie-rung, Bundestag und Bundesrat formulierten Ziele verstanden werden.
VDV-Stellungnahme zur Freistellung der Eisenbahnstrecke Bocholt – Borken – Coesfeld (Strecke 2265) von Betriebszwecken vom 14. Februar 2022 | 3/3